07.09.2021
Salems Retter – 140 Jahre Dr. Heinrich Blendinger
von Marc Zirlewagen, ASV-Redaktion
Von 1934 bis 1943 leitete Dr. Heinrich Blendinger Salem im Geiste seiner Gründer. Ihm war es zu verdanken, dass Salem bis beinahe zum Ende des Nationalsozialismus mit einem Minimum an Kompromissen überleben konnte. Am 8. September 2021 jährt sich sein Geburtstag zum 140. Mal.

Lehramt statt Theologie

Der Pfarrersohn Heinrich Blendinger (* 8.9.1881 in Gollhofen – † 15.8.1957 in Salem) studierte nach einigem Schwanken evangelische Theologie. 1905 absolvierte er als Pfarramtskandidat die theologische Hauptprüfung in Heidelberg. Es folgten bis 1906 das Vikariat in Rohrbach und bis 1907 in Rintheim. Danach wurde er bis 1909 Sekretär beim Evangelischen Oberkirchenrat in Karlsruhe. Blendinger sah seine Zukunft jedoch nicht im Dienst der Kirche. Er änderte seinen Lebensplan und studierte im Anschluss in München Deutsch, Geschichte und Erdkunde. 1913 absolvierte er das Staatsexamen. Danach wurde er Erzieher und Lehrer am Landerziehungsheim Schondorf am Ammersee. Kaum war er in seine neue Lebensphase eingetreten, brach der Erste Weltkrieg aus.

„Hervorragend tapferer Offizier“

Seinen Dienst als Einjährig-Freiwilliger hatte Blendinger 1900/01 beim 19. Infanterie-Regiment in Erlangen abgeleistet. Im August 1914 wurde er eingezogen und im September zum bayerischen Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 1 kommandiert. Im Herbst 1914 nahm er unter anderem an der Schlacht bei Arras teil. Dafür erhielt er das Eiserne Kreuz II. Klasse. Anschließend lag der Leutnant der Landwehr bis Mai 1915 in Stellung im Artois. Am 1. Juni 1915 wurde er bei Arras an beiden Oberschenkeln verwundet. Es folgten Lazarettaufenthalt, Genesung und ein längerer Urlaub. Am 17. Juli 1916 heiratete er Martha Uhlig, die ihn als Krankenschwester im Lazarett gepflegt hatte. 1916 promovierte Lehramtskandidat Blendinger an der TH München. Im Juli 1917 wurde er wieder ins Feld abgestellt und diente er als Kompanieführer einer MG-Kompanie. Am 14. Oktober 1918 geriet er als Oberleutnant d. L. in Flandern in englische Kriegsgefangenschaft. Sein Regimentskommandeur Major Maximilian Werkmann stellte Blendinger am 12. Dezember 1918 folgendes Dienstzeugnis aus: „Ein äußerst gewissenhafter, pflichteifriger, zuverlässiger und hervorragend tapferer Offizier, dem nur in seinem Auftreten gegenüber Untergebenen mehr durchgreifende Schärfe zu wünschen gewesen wäre. – Gediegener Charakter, beliebter Kamerad.“

Liberaler Demokrat

1918–1920 war Blendinger im Offizierscamp Wakefield in englischer Kriegsgefangenschaft. Der spätere FDP-Bundesgeschäftsführer und erster Geschäftsführer der Friedrich-Naumann-Stiftung, Werner Stephan, berichtet darüber in seinen Lebenserinnerungen. Danach blieb Stephan in Wakefield gegenüber der nationalistischen Belegschaft „Propagandist demokratischer Ideen“: „Freilich, als die Nachricht vom plötzlichen Tode Friedrich Naumanns zu uns herüberkam, da schien mir ein paar Tage lang politisches Wirken aussichtslos. […] Da kamen mir Gesinnungsgenossen zu Hilfe […]: der Tübinger Theologieprofessor Dr. Hans Schmidt […] und Dr. Heinrich Blendinger, Pädagoge von Format […]. Auch er war von Naumann maßgebend beeinflußt worden.“ Gemeinsam entwickelten Stephan, Schmidt und Blendinger Ideen, wie trotz Niederlage und Zusammenbruch, trotz territorialer „Verstümmelung“ und „untragbarer Reparationsforderungen“ ein „gesunder, demokratischer Staat“ entstehen könne. Für diesen trat Blendinger später als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei bei.

Salems Retter

Nach Rückkehr aus der Gefangenschaft trat er wieder seine Stelle in Schondorf an. Die ihm vom Schondorfer Gründer Julius Lohmann angetragene Leitung von Schondorf lehnte er ab, da er wegen der zu erwartenden Verwaltungsarbeit nicht auf die geliebte Arbeit als Erzieher und Lehrer verzichten wollte. Die Wahl fiel dennoch auf Blendinger, als der Schondorfer Direktor Ernst Reisinger vom Kultusministerium gebeten wurde, einen Mitarbeiter zur Leitung der Schule Schloss Salem abzustellen. Blendinger übernahm die Aufgabe zum Herbsttrimester 1934 aus Pflichtgefühl, nachdem ihn die Altsalemer Wolfram Günther und Hans Bembé überzeugten hatten, dass er Salem vor der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten retten müsse. Dies war als Kompromiss zwischen NS-Behörden und der Schule auch im Sinne von Ministerialrat Dr. Herbert Kraft vom Kultusministerium, dessen schützende Hand über Salem oft erwähnt wird, der jedoch überzeugter und aktiver Nationalsozialist war. Blendinger war Mitglied im NS-Lehrerbund, auch zeigt ihn ein Foto im Kurt-Hahn-Archiv in SA-Uniform mit Parteiabzeichen der NSDAP, dennoch leitete er Salem in einer Zeit ständiger Abwehr gegen offene und verstecke Angriffe von vielen Seiten. Eine genaue Analyse steht zwar noch aus, doch sind sich bisherige Darstellungen darüber einig, dass Blendinger die Schule im Geist ihrer Gründer geleitet und im Kern bewahrt hat. Hierfür waren Kompromisse und Zugeständnisse an das herrschende System unabdingbar. Ruprecht Poensgen führt hier unter anderem die Mitgliedschaft der Jungs in der HJ, Beitritt zahlreicher Lehrer zu SA und NS-Lehrerbund, „deutscher“ Gruß im Unterricht, Abhaltung „nationaler“ Feiern und Teilnahme an regionalen HJ- und BDM-Feiern sowie das „Führerprinzip“ in der Schülermitverwaltung an. Blendinger versuchte auf der anderen Seite Hahns Pädagogik so weit wie möglich zu erhalten und führte unter anderem im Schüler-Trainingsplan als Gegenwehr gegen den Gewissenszwang die neue Rubrik „Zivilcourage“ ein. Mit „lauterer Persönlichkeit“, so Hildegard Hamm-Brücher 1986, habe Blendinger vorgelebt, „was Verantwortung für die Hahn’schen Erziehungsideale, auch in schwerer Zeit, bedeutete.“ Sie selbst habe durch ihn gelernt für Überzeugungen geradezustehen und Verantwortung für sich und andere zu tragen. Dennoch urteilt Poensgen: „Die Salemer Schule unter Blendinger war nicht das Salem Hahns. Im Laufe des Dritten Reichs wandelten sich in der Schule Formen und Geist, sie stellten sich auf eine öffentlich herrschende Gesinnung ein, die totalitären Charakters war. Die Fortführung der Schule im nationalsozialistischen Deutschland kam stets einer heiklen Gratwanderung gleich: staatlich-ideologische Doktrinen mußten erfüllt werden, unabhängiges Denken und eigenes Handeln wollte man bewahren.“ Über Blendingers „Schlingerkurs zwischen äußerer Anpassung in Teilen, Auflösungsdrohung und standfestem inneren Widerstand“ (Ilse Miscoll) urteilte Kurt Hahn, dass Salem „in seinem Kern an Ehre und Gesittung unangetastet“ geblieben war. Im Frühjahr 1943 wurde Blendinger nach einem Schlaganfall, der auch als Folge dieser Gratwanderung gewertet wird, arbeitsunfähig. Zunächst vertrat ihn Carl Theil und ab Januar 1944 SS-Obersturmführer Dr. Walter Schmitt. Obwohl er sein Amt nicht mehr ausüben konnte, stand Blendinger seinen bedrängten Schülern auch 1944/45 stets mit einem offenen Ohr zur Seite. Auch an der Wiedereröffnung der Schule 1945 nahm er mit Rat und Tat Anteil und half als Lehrer aus, an eine erneute Übernahme der Schulleitung war aus gesundheitlichen Gründen jedoch nicht zu denken. Zuletzt außerhalb der Schule lebend, starb er nach langem und schwerem Leiden.

Blendingers Denkmal

Da Blendinger Salem „mutig und unbeirrt in der Zeit der Diktatur“ geleitet hatte, rief der Altsalemer und Mäzen Claus Hüppe 1985 das Heinrich Blendinger-Stipendium ins Leben. Er hatte Blendinger noch selbst als Schulleiter erlebt und verehrte ihn seither. Hildegard Hamm-Brücher bezeichnete das Stipendium 1986 als „Denkmal dankbaren Erinnerns“. Das Stipendium, welches von Anfang an als Auszeichnung verstanden wurde, wird seither an herausragende Schülerinnen und Schüler der Schule Schloss Salem vergeben, die noch kein anderes Salem-Stipendium in Anspruch nehmen. Salems-Gesamtleiter Bernd Westermeyer beschreibt den Anspruch, der sich mit der Vergabe dieses besonderen Stipendiums verbindet, heute wie folgt: „Dr. Heinrich Blendinger leitete die Schule Schloss Salem von 1934 bis 1943 im Geiste ihrer Gründer. Ihm war es zu verdanken, dass das Salem Hahn’scher Prägung bis beinahe zum Ende des Nationalsozialismus mit einem Minimum an Kompromissen überleben konnte. Durch Exzellenz-Stipendien, die seinen Namen tragen, soll deutlich werden, dass Persönlichkeitsmerkmale wie Geradlinigkeit, Courage und Hilfsbereitschaft in Salem besonders gefördert werden. Erwartet wird von allen Bewerberinnen und Bewerbern, „dass sie überdurchschnittliche akademische Leistungen mitbringen, dass sie sich sozial, musisch oder auch sportlich besonders engagieren und dass sie ihr Verantwortungsbewusstsein im Internat aktiv unter Beweis gestellt haben.“

Salems Wächter

Blendingers Grab auf dem Friedhof Salem-Stefansfeld wurde im Sommer 1994 überraschend eingeebnet. Hätte die Schule im Vorfeld davon erfahren, hätte sie alles versucht, um dies zu verhindern. 1995 wurde auf der Kapellenwand hinter dem Grab Kurt Hahns eine Gedenktafel für Blendinger angebracht. An diesem würdigen und selten vergebenen Platz wacht Blendinger in gewisser Weise noch heute über die Salemer und Altsalemer, die anlässlich der ASV-Pfingsttagung Kränze zur Ehrung und Erinnerung an die toten Altvorderen niederlegen. Sie tun dies auch stets als Würdigung von Salems Retter in schwieriger Zeit.

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