04/04/2025

Ein Trabi namens Honni

von Rafael v. Braun, Abitur (und ganz viel anderes) 2024
Von einem Abistreich, bei dem Abiturient Rafael von Braun und seine Mitschülerinnen und Mitschüler nur Kosten, aber keine Zeit und Mühen scheuten.

Sehr geehrte Leserschaft, was fällt ihnen als erstes zum Begriff „Auto“ ein?

Ich selbst denke sofort an eine Reise. Eine Reise, die man irgendwo beginnt, wenn man die Tür öffnet und einsteigt, und irgendwo beendet, wenn man wieder die Tür öffnet und aussteigt. Eine Reise, die möglicherweise völlig anders verläuft als geplant, und manchmal kürzer und manchmal länger ist. Bei einigen ist sie sehr einfach und bei den anderen sehr schwer, bei manchen scheint die Sonne, bei anderen gewittert es. Eine Reise kann voller prägender Hochs und Tiefs sein, voller unvergesslicher Erlebnisse, Erfahrungen und vor allem Lektionen.

Die Zeit in Salem lässt sich mit einer solchen Autoreise vergleichen. Auch sie beginnt, wenn man zum ersten Mal die Tür zu seinem Zimmer öffnet und endet, wenn man diese Tür zum letzten Mal schließt. Auch diese Reise verläuft oft nicht wie geplant, ist bei manchen länger und bei anderen kürzer, für einige sehr schwer und für andere sehr einfach. Zweifelsohne ist die Zeit in Salem aber auch eine prägende Zeit voller Hochs und Tiefs, Erlebnissen, Erfahrungen und vor allem Lektionen.

Was also, liebe Leserschaft, gibt es für ein besseres Symbol für diese Zeit als ein Auto?

Ein paar Wochen vor dem Abitur im Juni 2024 dachten mein Bruder Magnus und ich uns genau das. Um den ersten Abistreich zu organisieren, wollten wir ein Auto kaufen, an dessen Gestaltung der ganze Jahrgang mitwirkte, und es auf die Bühne stellen. So konnten wir uns auch gleichzeitig als Jahrgang verewigen.

Da das Budget jedoch ziemlich begrenzt war, suchten wir im Internet nach Möglichkeiten und riefen bei allen Schrottplätzen rund um Überlingen an. Erfolglos. Bis wir eines Tages auf eine Anzeige auf Ebay stießen, die zu schön schien, um wahr zu sein: „Verkaufe 1970 Trabant 601, keine Papiere, kein Motor, nur Barzahlung möglich, 110 €“. Ein Ungar namens Attila N. hatte diese Anzeige hochgeladen. Er besaß einen Schrottplatz nicht weit von Überlingen. Und dann bot er auch noch so ein Auto an, nicht irgendeins, sondern einen originalen Trabi, und dann auch noch zu dem Preis! Das musste getan werden. Nach einigen Gesprächen willigte der Ungar sogar ein, uns dieses Auto zu liefern. Eine ziemlich brenzlige Angelegenheit. Denn außer uns wusste noch keiner von dem Auto, schon gar nicht die Schulleitung. Das Auto müsste direkt auf den Campus geliefert werden, vorbei an den Klassenzimmerblocks, Haus 25, der Studienleitung und dem Speisesaal, und das alles unbemerkt! Außerdem wäre es mit der heimlichen Einschleusung des Trabis noch längst nicht getan. Denn wir wollten das Auto ja noch weiter gestalten und auf Vordermann bringen, und das müsste auf dem Schulgelände stattfinden, ohne dass gewisse Vertreter der Schule oder gar der Jahrgang unter uns es mitbekamen. Völlig abgesehen davon lautet die Regel für Autos im Leitfaden so:

„Den Unterzeichnern ist bekannt, dass:
1. Der Besitz von Autos und Krafträdern für Schüler des Salem College im Umkreis von 50 km nicht erlaubt ist. (…)
2. Wer im Kontext der Schule unerlaubt ein Fahrzeug nutzt und vor allem gegen Ziffer 1 dieser Regel verstößt, ein Ausschlussverfahren erhält.“
S.34: Autoregel für interne Schüler

Das hat es sehr viel spannender gemacht. Doch ein bisschen Risiko stört keinen großen Geist! Wir baten deswegen Attila, den Trabi erstmal auf den Edeka-Parkplatz zu liefern, um dann von dort aus strategisch zu beraten, wie man ihn am besten unbemerkt auf den Campus liefern konnte. Das sollte nach dem Abendessen geschehen und vor dem Silencium, damit keine Elftklässler sich auf dem Campus befinden würden, keiner mehr im Esssaal und noch keiner in der Bibliothek am Fenster sitzen würde. Entgegen aller Erwartungen stand um 19:00 Uhr also tatsächlich ein riesiger Pick-up mit einem uralten Trabant 601 und einem sehr fröhlichen Ungarn am Steuer auf dem Edeka-Parkplatz direkt neben dem Campus Härlen. Die Zeit war gekommen, entschlossen zu handeln. Also beschlossen wir, mit aller Selbstverständlichkeit der Welt auf das Schulgelände zu fahren und das Auto direkt hinter dem Theater unter dem Esssaal abzuladen. Dafür mussten wir über den Rasen fahren, und da ein solches Auto nicht gerade unauffällig ist, mussten wir uns blind auf unser Glück verlassen. Um es in den Worten Attilas auszudrücken: „Scheiße Jungs, ich hoffe keiner sieht uns und wir bekommen keinen Ärger.“ Mit sehr lautem Knirschen und Knarzen wurde unser Trabant also hinter dem Esssaal sehr langsam und sehr offensichtlich abgeladen. Durch ein absolutes Wunder wurden wir dabei nicht gesehen. Niemand war im Esssaal, die Bibliothek war ziemlich leer und fast alle waren in ihren Häusern, auch alle Haustutoren. Attila erhielt also sein Geld und machte sich auf den Rückweg, und wir machten uns daran, das Auto zu verstecken. Dafür nutzten wir eine sehr große Plane, die wir schon ein paar Mal benutzt hatten, und klebten ein Papierschild mit der Aufschrift: „KUNST-LK ABITURPROJEKT. NICHT BERÜHREN.“ darauf. Selbstverständlich waren wir nicht im Kunst-LK. Wir hatten uns den Ort ausgesucht, weil das Auto dort nah an der Bühne der Aula war, wo es irgendwann stehen sollte, und im toten Winkel der Fenster des Esssaales und der Fenster der Bibliothek lag. Außerdem war es vor neugierigen Blicken aus Haus 25 oder dem Klassenzimmerblock durch zwei Backsteinmauern geschützt. Es war im wahrsten Sinne des Wortes in aller Öffentlichkeit versteckt.

Jetzt machten wir uns daran, das Auto zu restaurieren. Es war zu Beginn in einem wahrhaft scheußlichen Zustand: voller Dreck und milchiger Scheiben, Rost und einem Lack, der vermutlich seit DDR-Zeiten nicht mehr erneuert wurde, völlig abgesehen von dem Geruch im Auto. Trotz des Zustands war es von der ersten Sekunde an magisch. 500.000 Kilometer war es gefahren, alle wertvollen Gegenstände waren entfernt worden, die Vertäfelung und die Sitze und das gesamte Innenleben waren jedoch noch original und nie repariert worden. Unter dem Fahrersitz war ein alter Feuerlöscher und das Auto ließ sich trotz des Alters noch problemlos rollen, lenken, und bremsen. Nur aus eigener Kraft konnte es nicht mehr fahren. Man hat sich sofort gefragt, welche Geschichte dieses Auto wohl hatte, wer es wohl besessen hatte, ob es ein Fluchtauto gewesen war und wo es wohl überall gewesen war. Der Trabi war eine Art Zeitkapsel, die uns magnetisch anzog und nicht mehr losließ. Also begannen wir und eine Gruppe hochmotivierter Mitschüler mit dem Prozess der Restauration. Zunächst schrieb ich eine E-Mail an Herrn Dr. Schwarz, unseren Internatsleiter. Etwas heikel, da ich ihn natürlich nicht um Erlaubnis fragen konnte, denn das Auto war ja schon da. Ich verfasste also ein sehr höfliches Anschreiben, in dem ich die Rahmenbedingungen als Jahrgangsprojekt erklärte, ihn darum bat, die Informationen für sich zu behalten und im Grunde mitteilte: „Sehr geehrter Herr Dr. Schwarz, jetzt ist es da.“ Sehr streng genommen war es ja auch gar kein Auto, da Attila den Motorblock als verwertbares Teil entfernt hatte. Als nächstes teilten wir es sehr geheim unserem Jahrgang mit und sammelten Geld für Farbe, Lack und Ausrüstung. Wir fragten nach Freiwilligen, die bei der Gestaltung mithelfen wollten und nach Ideen und Schablonen, mit denen das Auto verziert werden konnte. Gesagt, getan. Wir hatten das Glück, mit vielen hochmotivierten und sogar einigen künstlerisch sehr begabten Leuten einen Jahrgang zu teilen. Nachdem wir das Auto gründlich geputzt hatten, während die meisten im Unterricht oder in der Bibliothek saßen, hatten wir die notwendige Farbe und Ausrüstung sowie phänomenale Schablonen und Ideen, um unseren Trabanten endlich zu verwandeln.

Wir arbeiteten zehn Tage lang trotz mündlichem Abitur fast den ganzen Tag, um unsere Vision in die Tat umzusetzen. Der Trabi wurde zunächst knallrot angestrichen, nachdem die polierten Scheiben und Lichter abgeklebt worden waren. Dann wurde der Kühlergrill weiß angestrichen und die Stoßstange schwarz. Als nächstes wurde ein schneeweißer Rennstreifen über das ganze Auto entlang gezogen. Außerdem wurde das Auto von einigen Schülern mit Schablonen versehen und dekoriert. Das Ganze nahm langsam wirklich Form an. Unter anderem findet sich auf der Fahrertür der Schriftzug „ABI 24“ und ein wahnsinnig schön gestaltetes Salem-Logo auf dem Rennstreifen auf der Motorhaube. Besonders Viola H. will ich in höchsten Tönen für ihre Hilfe bei der Gestaltung loben. Das Salem-Logo auf der Motorhaube ist allein ihr Werk, und die sauberen Grenzen zwischen den Farben wären ohne sie nicht möglich gewesen. Letztlich sind mein Bruder und ich noch einmal zum Baumarkt gefahren,  und besorgten einige Aufkleber. Wir tauften den Trabi liebevoll „Honni“ und trugen diesen Namen als Schriftzug aus Aufklebern auf, zusätzlich zu einigen DDR-Stickern, die wir im Baumarkt gefunden hatten. Das Werk war komplett. Jetzt war es Zeit, es zu präsentieren. Unser Plan war, als den ersten Abistreich eine Schulversammlung zu übernehmen und sie nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Mit Hilfe des Jahrgangs hatte ich eine sehr aufwendige und unseren Ansprüchen angepasste PowerPoint- Präsentation erstellt. 

Mit der Unterstützung der sehr freundlichen Hausmeister wurde also an einem schicksalhaften Freitag um 6:00 Uhr morgens „Honni“ mit dem Gabelstapler auf die Bühne gehoben. Pünktlich zur Schulversammlung saßen sechs Jungs in roten Overalls und Alu-Hüten im sehr engen Trabi auf der Bühne, während die gesamte Schülerschaft die Aula betrat. In dem Trabi war es sehr heiß und sehr klaustrophobisch, da wir auch noch die Plane über das Auto gezogen hatten, um es zuerst verdeckt zu halten. Außerhalb des Trabis war das Programm schon in vollem Gange: Überall Schüler, einige mit Aluhut und rotem Anzug, einige ohne, alle jedoch in voller Fahrt. Musik dröhnte aus den Lautsprechern, die Aula war völlig umgestaltet worden. Inmitten dieser sehr aufgeheizten Stimmung begann der erste Abistreich: Der gesamte Jahrgang arbeitete zusammen. Eine wunderschöne Erfahrung! Jeder hatte sich eine Rolle ausgesucht und wirkte mit, um dem Jahrgang unter uns eine Show zu bieten. Der überarbeitete „Honni“ wurde unter Sirenen- und Motorengeheul von meinem Zwillingsbruder enthüllt, was eine große Überraschung war. Die gesamte Jahrgangsstufe 11 und viele der Lehrkräfte und Mitarbeitenden hatten noch nichts von einem Auto gehört. Heraus kamen die sechs (mittlerweile sehr verschwitzten) uniformierten Schüler und führten eine unabhängige Schulversammlung durch. Teil des Programms waren erbitterte 1-gegen-1-Lehrerkissenschlachten, Maßkrugstemmen und Karaoke-Duelle vor der gesamten Schülerschaft. Bis zu unserem letzten Tag in Salem stand „Honni“ noch auf der Bühne, und er hatte seinen letzten großen Auftritt bei der Examensfeier, die mein Bruder und ich im Namen des Abiturjahrgangs 2024 moderierten, diesmal jedoch in feinerer Kleidung und ohne Aluhut.

Mittlerweile steht „Honni“ in der Feuerwehrgarage und soll für Übungen der Feuerwehr genutzt werden. Er ist das stille Testament einer unvergesslichen Zeit und einer fast ungesunden Menge Spaß, unersetzbarer Erinnerungen und eines fantastischen Jahrgangs, in dem ich das wahnsinnige Glück gehabt habe, gewesen zu sein. Und wenn er nicht verschrottet wird, so rostet er noch heute! Eine Sache, liebe Leser, haben wir jedoch noch gar nicht besprochen. Ich habe zu Beginn dieses Artikels von der Zeit jedes Schülers in Salem als eine individuelle Autoreise geredet. Eine Reise hat, wie jeder weiß, einen Start und ein Ziel. Sie werden sich jetzt vielleicht fragen: Was war das Ziel unserer Reise? Ein Abitur? Nein. Sehr viel mehr als das! Abschließend war der Weg das Ziel. Der Weg in eine unglaubliche Dankbarkeit, der Weg in unvergleichliche Schönheit, und letztlich der Weg in die Zugehörigkeit zu einer unglaublichen Gemeinschaft: Der Salemer Familie.

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